E.S. – Evolutionäres Spielen
Das Tier in mir zu Halloween in der U-Bahn

Das Tier in mir hockt und hängt in der U-Bahn rum, dehnt und streckt seine Glieder. Der Atem fließt tief in den Beckenboden, ich spüre ihn bis in die Zehenspitzen.

Das Tier in mir versteht, jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch ist einzigartig. Das ist das Einzigartige: Wir sind alle gleich. Was uns gleich macht, ist, dass wir verschieden sind.

Das Tier in mir macht gerne einen Handstand und steht gerne auf dem Kopf. Vielleicht weil die Menschen alles verkehrt herum machen. Sie bemühen sich, anders zu sein, und das macht sie alle gleich. In ihrem Wunsch, gesehen zu werden, spielen die einen auf cool, die anderen auf beschäftigt. Das ständige Bemühen um Anerkennung hat das Feuer vieler Menschen stumpf gemacht. Mit hängenden Schultern und Köpfen hocken sie auf den Bänken der U-Bahn und streicheln traurig ihr Smartphone.

Während ich ein wenig kopfüber hänge, merke ich, wie das Tier in mir denkt: „Wenn ich nach Hause komme, ist der Boden sauber und ich kann drauf herumrollen, mir den Rücken und die Schultern massieren. Mmh, ahh.“
Das Tier in mir macht Geräusche. Es atmet, bewegt sich. Sein Blick fällt auf die Zombies, und es lacht.

Finster dreinschauen, demonstrativ die Stirn runzeln, aggressiv das Kinn nach vorne strecken – die Zombies zappeln, was sie in der Müdigkeit ihres Halblebens zustande bringen. Weil die Zombies nicht denken wollen, können sie sich nur schlecht bewegen. Es ist Halloween, die Lebenden gesellen sich heute Nacht zu den Toten. Darum haben die Leute auch Toleranz mit dem Tier in der U-Bahn. Töten darf man Tiere ja nicht, nicht in der U-Bahn. In der U-Bahn dürfen nur bereits tote Tiere gegessen werden. Die Menschen haben strenge Regeln, die bei genauerem Hinsehen keinen Sinn machen. Darum fällt es ihnen auch so schwer, sie immer richtig einzuhalten.

Klimmzüge machen munter. Böse Blicke prallen auf einen breiten Rücken, der sich langsam, Zentimeter für Zentimeter zur Decke und wieder zurück bewegt. Zeitlose Momente. Das Herz pumpt, ich genieße den Moment. Eine Welle der Klarheit hebt meinen Blick über die Köpfe der Menschen. Die Bewegungen werden immer kleiner, und meine Aufmerksamkeit springt vom Pulsieren der Schultern zu meinen Armen, in meine Fingerspitzen. Mein Rücken wird lang, meine Schultern schwer. Als die Energie zur Schädeldecke fährt, bemerkt das Tier in mir, wie meine Haare sanft die Decke der fahrenden Höhle streicheln.

Am Ende der Reise lasse ich mich hängen. Die Sekunden und meine Arme werden länger, meine Schultern rotieren, weiten und dehnen sich, pendeln sanft vor und zurück bei jeder Kurve. Dann geben meine Finger langsam nach. Ich gleite zu Boden. Als das Tier sich umdreht, haben die meisten Menschen ihr böses Schauen bereits aufgegeben.

Das Tier lächelt und gähnt, als sein Blick auf zwei Gespenster fällt, die sich unter den Zombies versteckt haben. Ein junges Gespensterpärchen hat die Köpfe verdreht, ist vom Staunen zum Grinsen übergegangen. Sie tuscheln, tauschen Blicke aus, beugen sich vor, wie um Schwung zu holen, als plötzlich das weibliche Gespenst seinen Kopf herumwirft. Während die blonden langen Haare noch ein wenig um die Halloweenbemalung ihres Puppengesichts nachtanzen, schießt es mit breitem Grinsen aus ihr heraus: „Und als was bist du verkleidet?“

„Als Mensch“, antwortet das Tier. „Die anderen hier auch, aber die meisten checken es halt nicht“, erkläre ich ergänzend. Die Gespenster brechen in schallendes Lachen aus. Das Lachen verklingt in der Stille des U-Bahn-Waggons.

„Und was machst du da jetzt eigentlich? Ist das eine Art Training? Dehnst du?“

„Ja, auch. Aber eigentlich hänge ich hier nur ab, und spiele, weil es mir dann gut geht“, höre ich das Tier antworten, während ich noch dabei bin, über eine Antwort nachzudenken. Die Gespenster kegeln mit ihren Gebeinen und tanzen vor Lachen.

Dann wird der Blick des weiblichen Gespensts ernst. Es setzt zu einer Frage an: „Hat das einen Namen, was du machst?“, höre ich seine Stimme, als ich gerade mit dem Denken fertiggeworden bin.

„Ja, ich nenne es E.S. Evolutionäres Spielen – spielerisch lernen, was man zum Mensch-sein so braucht. Es ist auch Training, aber es ist mehr. Was ich eigentlich hier mache, ist, spielerisch die grundlegenden menschlichen Bewegungsmöglichkeiten auszuprobieren. Daraus entwickeln sich schon Routinen, aber die sind nur Hilfen, um das, was sich im Moment gut anfühlt, besser wahrnehmen zu können. Wie ein Kind oder eine Katze beim Spielen, die Spiele verändern sich. Wenn du das Jetzt genießt und im Wohlfühlen bist, musst du nicht wissen, was als nächstes kommt.“

„Geil. Hört sich wirklich geil an!“, fällt mir das das weibliche Gespenst in meinen Kurzvortrag

„Zuerst dachte ich , der bewegt sich so anders, schon irgendwie „Psycho“. Jetzt denke ich mir, so wie dich sollte es mehr geben.“

„Wenn die anderen mitspielen. Wir arbeiten jedenfalls daran!“ Antworten das Tier und ich gemeinsam.

To be continued … at http://www.anders.jetzt/