Die langen Trainingseinheiten unter der Woche haben meinen Wocheneinkauf auf den letztmöglichen Tag verschoben.

Am Samstag einkaufen: Nur mit Widerwillen. Massen von Menschen. Bitte lass mich einen freien Behindertenparkplatz finden. Samstag einkaufen. Nur wenn es sein muss. Die vielen Menschen. Ich – mit dem Rollstuhl und dem Einkaufswagen – mittendrin. Heute muss es sein.

Es ist kurz nach neun Uhr. Ich bin früh dran für einen Samstag. Zielsicher und mit schlechter Laune. Fahre mit dem Auto auf den großen Supermarktparkplatz und suche nach einem freien Behindertenparkplatz. Glück gehabt! Einer ist noch frei. Nach dem Aussteigen sitze ich im Rollstuhl. Als erstes schaue ich auf den zweiten Behindertenparkplatz. Das Auto neben nebenan hat keinen blauen Ausweis in der Frontscheibe. Schon wieder! „Diese Nichtbehinderten erschleichen sich einen Vorteil auf Kosten behinderter Menschen.“ denke ich bei mir. Und schiebe den Einkaufswagen in Richtung Supermarkt.

Mein Einkaufszettel hilft mir, schnell und gezielt meine Produkte zu finden. Nach getanem Werk bewege ich den schwergängigen Einkaufswagen und stelle ihn vor dem Kofferraum ab. Dabei erkenne ich aus dem Augenwinkel zwei Personen neben meinem Kombi stehen. Der nichtbehinderte Falschparker verlädt seelenruhig seinen Einkauf. Einen bösen Blick werfe ich ihnen zu. Die Frau und offensichtlich ihr Mann erwidern ihn mit einem aufgesetzten, falschen Lachen.

Ich überlege mir meine Strategie. Es gibt keine, ab ins kalte Wasser: „Was soll das? Sehen Sie nicht die riesengroße blau-weiße Bodenmarkierung? Das ist ein Behindertenparkplatz, auf dem Sie parken. Sie sehen mir nicht behindert aus?“ mahnte ich den offensichtlich nicht der deutschen Sprache mächtigen „Schmalspur-Ganoven“.

Wie aus der Pistole geschossen antworte er: “Kann stehen wo ich will. Polizei kann nix machen. Privatparkplatz!“
Genau so schnell konterte ich: „Du bist ein schönes Arschloch. Du parkst hier unerlaubter Weise und behinderst damit andere Menschen“.

Plötzlich mischt sich seine Frau ein und brüllt: “Was Du scheiß Arschloch Behindetar da wollen, schleich de ham….“
Ein Wort ergibt das andere und jeder packt die gekauften Sachen ein. Nebenbei beschimpfen wir uns heftig weiter. Schließlich ist das „freundliche“ Ehepaar mit dem Einpacken schneller fertig als ich und steigt in ihr Auto.

Mit langsamen Kung-Fu-Schritten nähert sich von der Seite ein Junge, geschätzte 15 Jahre alt. „Du nix schimpfen meine Mutter, meine Vater“ intervenierte er. Mein Körper vibrierte. Das kann nicht sein. Das Alles ist ein Scherz. Ist da die Sendung „Verstehen Sie Spaß?“ Wo ist die versteckte Kamera?

Unaufhaltsam bewegt sich „Karate-Kid“ immer näher. In dem Moment überlegte ich mir:
Wie alt ist er wirklich? Kann ich dem eine schmieren? Was ist, wenn ich ihn verletzte?
Angespannt fokussiere ich meinen Gegner, der mit hohen Fuß-Kicks in der Luft mir Angst machen will. Mit voller Stimme schreie ich ihm entgegen:„Komm trau Dich, hau her!“…

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Dann passiert, womit ich nicht gerechnet habe: Der Fuß war so schnell, dass ich keine Möglichkeit hatte, den Schlag auf mein Schienbein abzuwehren. Er läuft weg und verschanzt sich vor dem Wagen, wohin ich mit dem Rollstuhl nicht fahren konnte. Mit voller Kraft rolle ich ihm nach. Siegessicher und stolzierend steht „Karate-Kid“ auf einem kleinen Felsen. In voller Fahrt: ich bremse mich vor ihm ein. Mit einem schnellen Schwung stemme ich mich aus dem Rolli. Stehe auf. Ich setzte auf das Überraschungsmoment. Kaum stehe ich vor ihm – auf einem Bein – brülle ich ihm entgegen: „Was Du wollen? Hertreten und weglaufen? Feigling!“

Plötzlich – hinter mir – kreischt seine Mutter: „Der ist nix Behindert“. Mein erster Gedanke: ‚Das ist ein Kompliment?‘
Vorbeigehende Passanten sehen das Geschehen. Manche entschließen sich, stehen zu bleiben. „Ich gehe Ihnen als Zeuge“, sagt ein entsetzt wirkender älterer Mann. „Ich brauche niemanden ich regel mir das schon alleine“, entgegnete ich ihm.

Das tut man nicht. Man schlägt keinen behinderten Menschen (sowieso kein Lebewesen). Vollkommen egal, wie alt der Bursche ist. Jetzt muss die Polizei kommen‘, sag ich zu mir. Im Rollstuhl gehe ich hinter das Auto seiner Eltern mit dem Plan, die Polizei zu rufen und gleichzeitig den Weg abzusperren. Die Autos sind so geparkt, dass man nur rückwärts aus dem Parkplatz fahren kann.

Unbemerkt steigt der Vater aus dem Wagen und hält sich an den Haltegriffen hinten am Rollstuhl fest. Damit versuchte er mich vom Auto wegzuschieben. Durch mein intensives Hand-Bike-Training in letzter Zeit, habe ich kräftige Oberarme bekommen und ich drehe zweimal an den Treibringen: reiße mich von ihm los.
Währenddessen wechselte seine Frau vom Beifahrersitz hinter das Lenkrad. Sofort rolle ich wieder hinter das Auto und warte:
Sie startet das Auto und fährt langsam in meine Richtung. Ich bleib stehen. Das Auto kommt immer näher. Ich beweg mich keinen Millimeter. Die Stoßstange berührt seitlich meinen linken Treibring. Das Auto rollt weiter. Ich bereite mich auf das Schlimmste vor, mit der Hoffnung, dass das Auto doch noch zum Stehen kommt. Im selben Moment neige ich mich mit dem Rollstuhl auf die rechte Seite. Fallen lasen, am Rollstuhl fest anhalten, einfach abrollen und auf eine sanfte Landung hoffen, beschwöre ich mich. Krach Bum.

Am Boden liegend wird mir sofort klar: Jetzt ist die beste Zeit, die Polizei anzurufen. Während des Anrufs, kontrolliere ich noch den Rollstuhl, der noch keine zwei Wochen alt ist. Das rechte Rad ist so stark verbogen, dass es am Rahmen streift. Zeitgleich führte ich ein Gespräch mit der Polizei, die sicherte mir schnelle Hilfe zu.

Der Rollstuhl demoliert. Meine Kleidung löchrig und schmutzig. Innerhalb von ein paar Sekunden. Als ich mich auf mein Bein stelle, stehen Rund um mich Menschen, die den Vorfall beobachtet haben. In ihren Gesichtern erkenne ich Entsetzten, Angst und Hilflosigkeit. Aus der Menge hörte ich Stimmen, die mir Mut machten: „Die gehören angezeigt!“ Und sofort versuchten die ersten Passanten, mir in den Rollstuhl zu helfen. Was ich normalerweise überhaupt nicht leiden kann. Ich bedankte mich für das nette Angebot.

Keine zehn Minuten später, als ich schon längst wieder im Rolli sitze, höre ich von weitem ein Folgetonhorn. Mit vollen Karacho und Blaulicht, brausen Frau und Herr Wachmeister an den Unfallort. Die Beamten befragten mich als erstes über den Hergang. Doch der Mann tobt und schimpft vor der Polizistin, sodass sie ihn auf die andere Straßenseite verbannte.

Nach und nach verhören die Gesetzesvertreter Unfallgegner und Zeugen. Ein paar Menschen sprechen mich an. Sie hätten alles gesehen und sie werden mir als Zeugen zur Verfügung stehen. Das beruhigt und gibt Zuversicht. Doch für mich war der Vorfall sonnenklar. Dieser Mensch und seine Familie sind schuldig, auf mich gewaltbereit zugegangen zu sein. Was soll da noch kommen? Der Fall wird vor Gericht landen, unangenehm aber notwendig.

Nach dem telefonischen Tipp von der Polizei, die mich am Nachmittag anrief, meldete ich mich am darauffolgenden Montag bei Amtsarzt. Dieser nahm meine leichten Verletzungen an der rechten Schulter und im Nacken auf.

Einige Wochen später schreibt mir das Bezirksgericht: „…das Verfahren muss eingestellt werden, weil keine Aussicht auf ein Gerichtverfahren ist…“

martin + kind
Enttäuscht, aber nicht entmutigt kontaktierte ich die Rechtsabteilung der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA). In Österreich sind die Bestimmungen so, dass entweder die Pensionsversicherungsanstalt oder die Krankenkassen den Rollstuhl kauft und sie dem Betroffenen zu Verfügung stellt. Die sehr nette Leiterin der Rechtsabteilung übernahm persönlich meinen Fall.

In Folge stellte die AUVA Regressforderungen an den Vater, der sofort zustimmte. Das Gericht sah dies als Schuldeingeständnis und verurteilte ihn in nachhinein zu Schmerzensgeld

Diese Geschichte ist ein Auszug aus:

Wiederbelebung – Geschichten aus der Psychotherapie von Menschen mit besonderen Bedürfnissen
ISBN 978-3-85028-645-9
Ein psychotherapeutisches Märchenbuch; Autor: Manfred Pawlik, 120 Seiten + Umschlag, 15,5 x 21,3 cm, Softcover, 2. Auflage 2014

https://www.verlag-berger.at/alle-produkte/fachliteratur/detail/v/isbn-978-3-85028-645-9.html